Freitag, 24. September 2010

Dogmen und Dogma oder: über die Kritik in der Rap-Szene

"Allgemein hält Staiger den Umgang mit Kritik in der deutschen Hip Hop Szene für verbesserungswürdig, weswegen er einen Runden Tisch anregt, bei dem über das Thema zwischen Künstlern und Redakteuren gesprochen werden sollte"


(Quelle: http://rap.de/news/5165 )

Über Reaktionen von Rappern auf Kritik zu sprechen bedeutet, über Reaktionen auf Reaktionen zu sprechen. Kritik ist nie Aktion, immer Reaktion. Will man also über dieses Thema reden, muss man bei der Aktion, in diesem Falle also dem musikalischen Erzeugnis eines Rappers anfangen, um dann auf die Reaktion, die Kritik dieses Erzeugnisses, zu kommen.

Fangen wir also bei der Musik an. Hiphop als Musik wie auch als Lifestyle oder meinetwegen Kultur ist ein Importprodukt aus den USA, was u.a. den hohen Grad an Anglizismen im Deutschrap - Flow, Skills, Tight, Beat etc. - erklärt. Als Importprodukt hatte Hiphop lange Zeit mit kulturellen Differenzen zu kämpfen. Während es in den USA vornehmlich Farbige waren, die sich an dieser neuen Kunstform versuchten (und damit größtenteils die weiße Mittelschicht-Jugend der Vorstädte belieferten), waren es hier eben jene Mittelschicht-Kids, die anfingen zu rappen. Während die US-Rapper im Gangsta-Rap die Ghettoisierung amerikanischer Großstadtsprawls und die Perspektivlosigkeit der schwarzen Jugend thematisierten, im politischen Conscious-Rap teils radikale Black-Panther-Parolen verwendeten und im Porno-Rap das Klischee des langschwänzigen, überpotenten Schwarzen karikierten, taten sich die Deutschen etwas schwerer. Denn im Beipackzettel des Importprodukts Hiphop wurde gleich der Slogan "Keep It Real" mitgeliefert. Noch in den 90er Jahren wurde im Deutschrap stets mahnend betont, wir seien ja nicht in Compton oder der South Bronx und von Zuständen wie drüben weit entfernt.

Der deutschsprachige Rap beschränkte sich daher auf Competition, selbstreferentielle Rap-ist-mein-Leben-Sprüche, Wortspielereien, das Suchen nach ausgefallenen Reimworte und dergleichen - im Grunde genommen nur konsequent wenn man bedenkt, dass Deutschland sich nach wie vor als das Land der Dichter und Denker versteht.

Erst als sich der deutsche Rap ab etwa der Jahrtausendwende vornehmlich in der Berliner Szene der bislang geschmähten Sparten Gangsta und Porno annahm zeichnete sich der rückwärts gerichtete Alterungsprozess des deutschen Hiphop in aller Deutlichkeit ab. Während der amerikanische Rap "drüben" mit allen Phasen von der Kindheit über die Pubertät organisch heranwuchs, kam er in Deutschland als fertiger Erwachsener an. Und er holt seither nicht bloß die Kindheit nach, die er hierzulande nie so richtig haben durfte, er entwickelt sich wie Benjamin-Button zum Kind zurück.
Inzwischen rappt in Deutschland nämlich dieselbe soziale Klientel wie damals in Amerika: Migranten, gesellschaftliche Außenseiter, die Unterschicht, das, was Soziologen das "abgehängte Prekariat" betiteln. Und sie tut dies nicht in Jugendzentren unter der Aufsicht altlinker Sozialpädagogen, die stolz sind dass "ihre Kids wenigstens mal was Sinnvolles" machen, sondern losgelöst von sämtlichen Dogmen und jeglicher Aufsicht.

Dass sie dabei nicht weniger dogmatisch sind als die Deutschrapper der 90er Jahre muss an dieser Stelle genausowenig diskutiert werden wie die Frage, ob sich der einfache, auf Schlagworte reduzierte Straßenrap hierzulande ausgelutscht hat. Vielmehr wollen wir nun auf die Kritik, und damit die szeneinterne Reaktion auf diese Art Musik kommen.

Unter den Rap-Kritikern finden vornehmlich Altvordere des Deutschrap, typische Oldschooler, also zusammengefasst: alle diejenigen, die vor zehn Jahren das erwachsene, auf Competition und Wortspiele zentrierte Importprodukt Hiphop abgefeiert haben. Und wie alle Erwachsenen es seit ewigen Zeiten tun blicken sie auf die nachfolgende Generation mit einer Mischung aus Ablehnung und Unverständnis, welche sich im Alltag im abgenutzten "Diese Jugend von heute"-Spruch äußern würde.
Im Alltag. Im Hiphop schlägt sie eher mit Sprüchen wie "Das soll Rap sein? Die benutzen ja nichtmal Doppelreime" zu Buche, und hier mischt sich ein weiteres, vielleicht typisch deutsches Phänomen ein, der Kulturchauvinismus: Kunst, das ist ein bestenfalls akademisches, in jedem Falle aber mit hohem geistigen Aufwand verbundenes Produkt, dahinter stecken große Gedanken, also alles, was die klassische Deutschlehrer-Frage "Was will uns der Dichter damit sagen?" rechtfertigt. Folgerichtig guckt sich der Kulturchauvinist also den Künstler an und sieht bloß den Neuköllner Kanaken mit Hauptschulabschluss, und was kann so einer sich schon groß dabei gedacht haben, als er sich seine lyrisch einfachen gewaltverherrlichenden und/oder frauenfeindlichen Texte zusammengereimt hat...?

Wie der Kulturchauvinismus sich in der Praxis äußert sieht man am öffentlichen Umgang mit der Rapperin Lady Bitch Ray. Ihre Porno-Rap-Texte sind in der Wortwahl nicht anders als die ihrer männlichen Kollegen. Aber Lady Bitch Ray hat Germanistik studiert und ist Doktorandin an der Uni remen, und während die Zeitschrift "Stern" einst die Pornoraps des nichtstudierten Künstlers Frauenarzt als "Vergewaltigungs-Alptraumszenarien" betitelte, wurden Lady Bitch Rays kaum zimperlichere Texte in der Zeitschrift "Die Zeit" als "perfekte Imitation der Jugendsprache" gelobt - klar, die Dame hat studiert, da muss ja mehr dahinterstecken.

Dass der Kulturchauvinismus auch die Mehrheit der Deutschrap-Szene dominiert sieht man weniger an direkter Herabsetzung von Künstlern aus dem Straßenmillieu - das geht nicht, denn der Hiphopper ist laut Selbstverständnis natürlich tolerant -, sondern an den Ansprüchen, die landläufig an "guten Rap" gestellt werden: ungewöhnliche und mehrsilbige Reimworte, ausgefeilte Vergleiche, durchdachte Punchlines und gedanklich klar strukturierte Texte, um nur einige Stichpunkte zu nennen. Alles Maßstäbe, die wie diejenigen, die sie festsetzen, aus jener Zeit stammen, da Hiphop noch erwachsen, reif und bedacht war. Und da man mehrsilbige und ungewöhnliche Reimworte natürlich nur mit einem entsprechend großen Wortschatz zustandebringt, bleibt der Neuköllner Kanake mit Hauptschulabschluss halt außen vor, bzw. ist "wack".

Genau dies ist eines der größten Probleme der Kritik im Deutschrap. Aus irgendeinem perfiden, nie verfassten aber in vielen Köpfen doch existenten Oldschool-Regelbuch werden die Maßstäbe entnommen und Künstlern aufgezwängt, die auf solche Maßstäbe oftmals gar keinen Wert legen. Sicher: dass die Kritik der Kunst immer einen Schritt hinterherhinkt liegt in der Natur der Sache, Aktion und Reaktion eben. Aber besonders im Deutschrap sind die Maßstäbe derart zementiert, dass
es den Anschein erweckt als errechne sich die Qualität eines Raps-Tracks anhand des Flows oder der Punchline- oder Doppelreimdichte quasi von selbst.

Die Kritik muss einsehen, dass es keine zu erfüllenden Vorgaben im Rap gibt, sondern wie in jeder Kunstrichtung eine gigantische Palette an Stilmitteln, die der Künstler einsetzen kann. Die Stimme, der Stimmeinsatz, die Betonung, schwer spezifierbare Faktoren wie Delivery, Authentizität und Atmosphäre, all dies und vieles mehr machen am Ende das Gesamtprodukt aus. Und wenn ein Rapper ausschließlich assonante und einsilbige Zweckreime verwendet oder in einem simplen, auf Snare betonten Stakkato-Flow rappt, dann sagt das nichts über seine Fähigkeiten oder die Qualität des Tracks aus, sondern ist zunächst einmal eines dieser Stilmittel.

Man übertrage das schlichtweg auf den Film: Lars von Trier etablierte in seinen Dogma-Filmen die verwackelte Handkamera (die z.B. später dann auch in "großen" Hollywood-Produktionen wie "Private James Ryan" als Stilmittel zum Einsatz kam) und erzeugte damit eine eigene, extrem authentische "Mittendrin"-Atmosphäre. Wären die Maßstäbe in der Filmkritik so festgefahren wie im Rap, hätte die Kritik darauf vermutlich so reagiert: "Die Filme sind schlecht, weil sie mit verwackelter, grobkörniger Handkamera gefilmt sind, war der etwa zu doof stillzuhalten und hatte zuwenig Kohle für 'ne Full-HD-Cam?!"

Lars von Trier wurde gerade wegen der Konsequenz, mit der er seine Stilmittel einsetzte, gewürdigt. Ein Rapper, der mit der gleichen Konsequenz die Maßstäbe der Rap-Kritik ignoriert, gilt dagegen als "unbelehrbar schlecht". Dass durch solche Aburteilungen Fronten verhärtet anstatt aufgeweicht werden, dürfte klar sein.