Sonntag, 22. März 2009

Amoklauf der Prävention

Mit brennender Sorge und steigendem Befremden beobachte ich die Kollateralschäden des Amoklaufs von Winnenden. Nachdem kurz im Anschluss an die Tragödie vom 11. März 2009 die bundesdeutsche Presse sich in einem beispielhaften Amoklauf durch die Paragraphen des deutschen Pressekodex' metzelte ("Anonymisieren? Bang! Journalistische Sorgfaltspflicht? Bang! Unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt? Ratatatata...") und bei abendlichen Talkrunden sog. Experten, also die altbekannten "Kommentarwichsmaschinen" (Max Goldt), den Amoklauf der Schuldzuweisungen tätigten, sollte man knappe 2 Wochen nach den tragischen Ereignissen meinen, wieder im Normalzustand angelangt zu sein.
Sollte. Nun, während ich nach diesem langen einleitenden Satz eben Luft hole, lassen wir kurz die öffentliche Meinungsonanie Revue passieren. Die Schuld- und Ursachenfrage konnte im Gegensatz zu Erfurt (Counterstrike & Slipknot!) und Emsdetten (Final Fantasy & Lebensfrust!) nicht eindeutig geklärt werden konnte (Far Cry? Beretta im Nachtisch? Tischtennis? Bondage? oder doch Mozarts "Entführung aus dem Serail"?), was allerdings nicht bedeutet, dass die größten Wichser etwas dazugelernt hätten. Nach wie vor sind es natürlich Killerspiele, irgendwie auch das Waffen-Recht und über 30 Ecken bestimmt auch wieder gewaltverherrlichende Musik, die da Schuld haben. Aber selbst in der BILD-Zeitung wurde die Tatsache, dass es sich lt. Zeugenaussagen bei dem Amokläufer von Winnenden um einen netten, zurückhaltenden jungen Mann gehandelt hat, dem solch eine Tat niemand zugetraut hätte, derartig häufig betont, dass man diesmal nicht auf das eindimensionale Klischee des Killerspiel-Kellerkinds, des soziopathischen Sonderlings zurückgreifen konnte.
Deswegen wurden neben dem üblichen Geschrei & Gegeifer nach der Verschärfung des Jugendschutzes, Waffenrechts etc. nun auch Stimmen laut, die sensibelst eine "Kultur des genauen Hinsschauens" herlamentierten, um "frühe Warnsignale" zu erkennen und ggf. präventiv das schwarzwerdende Schaf in die Reinigung zu kriegen, ehe es zu spät ist. Also ehe es Amok läuft, versteht sich. Das Schaf, das halbschwarze. Verdammt, ist das kompliziert.
Aber wir leben ja in einem Land, welches dankbar auch den schwachsinnigsten Aktionismus bejubelt, hauptsache es sieht so aus, als würde etwas getan. Der Rektor einer Düsseldorfer Schule erzählte der Rheinischen Post stolz, man habe jetzt Präventiv-Maßnahmen eingeleitet: Jeder Schüler solle, natürlich unter vier Augen beim Lehrergespräch, Schüler nennen, bei dem oder denen er "Bedenken" habe. Und dieses Mal werden nicht nur die Killerspiel-Kellerkinder und soziopathische Sonderlinge, die ja ohnehin unter Generalverdacht stehen, die Leidtragenden sein. Denn der Amokläufer von Winnenden war nicht nur "nett" und "zurückhaltend", sondern angeblich auch "depressiv". Aha. Was bei der gegenwärtigen Amok-Hysterie vermutlich dafür sorgen wird, dass jeder, der nicht mit lobotomisiert-fröhlichem Gesichtsausdruck die binomischen Formeln aufsagt, sondern stattdessen mit Sorgenfalte auf der Stirn aus dem Fenster stiert, von einem Team ambulanter Psychologen und Sondereinsatzpädagogen derart therapiert wird, dass ihm gar nichts anderes übrigbleibt als sich krank zu Lachen.
Klar, das ist übertrieben. Aber was ist in diesen Tagen nicht übertrieben? Dass der gesunde Menschenverstand offensichtlich flächendeckend heruntergefahren wurde, sieht man am Deutlichsten an einem weiteren Kollateralschaden der ganzen Geschichte, dem Rapper Kaas und seinem Musikvideo, welches einen Amoklauf zeigt. Das tragische ist hierbei, dass Kaas nun vermutlich der letzte Rapper ist, der in irgendeiner Weise Gewalt verherrlicht; ganz im Gegenteil, gerade Kaas hat eine künstlerische Intention, eine positive Message, er ist letzten Endes der Prototyp des oft als Öko-Hippie-Hopper geschmähten Conscious-Rappers - und ausgerechnet ihn pickt man sich heraus, um einen Sündenbock zu haben. Nein, gesunden Menschenverstand sucht man leider vergebens.
Das Tragische an diesem Beispiel ist jedoch nicht die bisweilen ins Groteske driftende Absurdität des ganzen medialen Spektakels; das Tragische ist, dass allein am Beispiel von Kaas sich dieser ganze schlagzeilentaugliche Genau-Hinschauen-Warnsignale-Beachten-Pomp als der lauwarme Furz entlarvt, der auch letzten Endes ist. Wer genau hingeschaut hätte, hätte den Disclaimer gesehen, den Kaas seinem Video vorangestellt hat, der hätte außerdem festgestellt, dass das Musikvideo Szenen des Diplom-Abschlussfilms „Amok“ von Peter Lenkeit enthält. Aber statt genau hinzuschauen verlegt man sich lieber auf Sperrfeuer.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass dem Sperrfeuer vor allem Unbeteiligte zum Opfer fallen, beispielsweise Leute mit roten Haaren. Quatsch, meine natürlich: Leute mit den falschen T-Shirts. Ich habe schon mehrfach von Hirntot-Fans gehört, welche wegen des Tragens von "Hassrapper"-Shirts umgehend zum Rektor ihrer Schule zitiert und darauf hingewiesen wurden, dass solcherlei "rechtsradikale Kleidungsstücke" an der Schule verboten wären. Und beispielhaft auch der Klassenbucheintrag, den ein Schüler erhielt, welcher einen Hirntot-Sticker auf seinem Ordner hatte: "K. befürwortet Gewalt, das zeigt er mit einem Aufkleber der Gruppe 'Hirntot' auf seinem Hausaufgabenheft".
So einfach ist das. Was braucht man auch genau hinschauen, wenn die Amokläufer von morgen schon anhand der Musik, die sie hören bzw. der Kleidung, die sie tragen identifizierbar sind? Nein, nein: solange Lehrer sich für ihre Schüler genausowenig interessieren wie Eltern für ihre Kinder wird sich nichts ändern. Vielleicht ist es an der Zeit zu akzeptieren, dass eine Gesellschaft wie unsere, die immerhin so krank ist sich 20 verschiedene TV-Magazine für ein und dasselbe Fernsehprogramm zu leisten, mitunter abgedrehte Individuen hervorbringt.